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Morgen

„Geht es noch? Was machst du da?“ fauchte er seinen Bruder an, während er ihm dessen halb geleerte Flasche aus den Armen riss. „Siehste doch. Ich Ich trinke“ entgegnete ihm sein Bruder lallend. Michaels kleiner Bruder war abermals betrunken. Die letzten zwei Wochen, seitdem er wieder arbeitete und kein Auge mehr auf seinen Bruder werfen konnte, war Christian jeden Tag angetrunken, oft besoffen. Michael machte sich Sorgen um ihn, aber wusste sich nicht zu helfen. Christian ließ sich von ihm nichts sagen und seinen Eltern war egal, was mit ihm war. So versuchte Michael zumindest das Gröbste zu verhindern. „Gib sie wieder her“ forderte Christian energischer seine Flasche Wodka zurück. „Sie ist mein Schatz. Mein Schaaaatz“. Dabei fing er laut an zu lachen und seinen Kopf in alle Richtungen zu winden. „Gib sie wieder her! Sonst knallt es“. Doch Michael reagierte nicht. Eine Gefahr stellte sein Bruder ohnehin nicht da. Christian war 2 Köpfe kleiner und vom Körperumfang die Hälfte seines acht Jahre älteren Bruders, Michael.

„Ich werde sie jetzt weg kippen. Du bist noch zu jung für dieses Zeug“. Michael versuchte erst gar nicht beruhigend auf ihn einzuwirken. Er wusste, dass er in Christians Zustand eh nicht zu ihm durchdringen würde, so dass er entschied ihn einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Er ging ins Badezimmer. Christian bemerkte erst gar nicht, dass sein Bruder nicht mehr in seinem Zimmer war und redete weiter: „Sie ist mein Schaaaatz“. Als er bemerkte, dass sein Bruder nicht mehr anwesend war, war sein Schatz schon verschollen oder besser gesagt, der Wodka in die Toilette gekippt. „Was hast du getan? Du Arschloch. Du hast ihn getötet. Meinen Schatz“. Christian schlug wild um sich, fluchte, stieß jedoch auf taube Ohren. Michael hatte sich schon daran gewöhnt und seine Ohren prophylaktisch verstopft, weil er ahnte, dass sein Bruder wieder seine Anfälle haben würde. Er konnte es ihm nicht verübeln. Er wusste, wie es seinem Bruder ging. Hatte er doch Selbiges vor vier Jahren selbst durchlitten. Erst hatte er nur getrunken und irgendwann ist er zu härteren Drogen übergegangen, bis er schließlich bei Crystal landete. Vorletztes Jahr hatte er den Absprung geschafft, nachdem ihm vom Gericht eine Therapie aufgezwungen wurde. Diesen Weg wollte er ihm ersparen, aber er wusste nicht wie. Denn Christian wusste von seinem Schicksal und dennoch war er dabei genau den gleichen Weg wie er einzuschlagen.

„Gib mir neuen. Ich brauch meinen Schatz. Meinen Schatz doch“ flehte sein Bruder und fing an zu heulen wie ein Wolf, dann flossen Tränen. Michael war verzweifelt, als er seinen Bruder um neuen Alkohol bittend sah. „Ich brau-brau-brauch ihn doch“. Auch Christian war verzweifelt. Beide Brüder wussten nicht, wie es weiter gehen soll. Michael wusste nicht, wie er seinen Bruder aus dem Sumpf des Alkohols holen und Christian nicht, woher er schnell neuen Alkohol kriegen sollte. Irgendetwas musste passieren. Das wusste Michael und er hoffte, dass er der Erste wäre, der eine Lösung finden und nicht, dass sein Bruder neuen Alkohol besorgen würde. Doch Christian war just in diesem Moment eingeschlafen und kauerte in der Ecke auf dem Boden. Der Alkohol schien seine volle Wirkung zu entfalten und verschaffte Michael etwas Zeit. Zeit, die er dringend brauchte, um nachzudenken. Um seinen Bruder zu helfen. Morgen, so wusste er, würde sein Bruder weiter trinken und das Spiel von vorne beginnen. Morgen würde sein Bruder einen weiteren Schritt zum Abgrund hin gehen. Er schaute aus dem Fenster in die nächtliche Straße. Morgen muss sich etwas ändern, dachte er sich und schaute ein letztes Mal zu seinem schla-fenden Bruder. Definitiv.

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