Damals
Vorherigen Teil lesenHallo Christian,
du erwartest nicht wirklich eine Antwort, oder etwa doch? Wenn ja, würde es mich sehr wundern, aber da ich heute einen guten Tag habe und da man zudem bekanntlich jeden Tag eine gute Tat vollbringen soll und ich dies noch nicht ge-tan habe, werde ich dir hiermit – ungefragt – eine liefern. Deswegen erwarte ich auch keine Antwort auf meine Frage. Sie war eh nur rhetorisch. Ich weiß, dass du dich nach einer Antwort sehnst. Mir würde es genauso gehen. Aber eigentlich weißt du doch bereits die Antwort, oder? Du willst nur eine Bestätigung. Auf Nummer sicher gehen. Kein Risiko eingehen. Also hier ist deine Antwort. Aber ob sie dich befriedigen wird? Ich denke nicht. Ich bin mir sicher, dass sie dich eher verunsichern wird. Also genau das Gegenteil von dem, was du dir versprichst. Willst du immer noch eine Antwort haben? Unter diesen schlechten Vorzeichen? Sie wird dich zermürben. Du wirst dich nur noch fragen, warum du dich damals nicht anders verhalten hast. Es wird dir Niemand antworten. Dir eine klärende Antwort darauf geben. Du wirst alleine da stehen. Fragend, zweifelnd lesen. Ich würde es dir raten, aber, wie ich dich kenne, wirst du es nicht können. Mach mir keine Vorwürfe. Mich brauchst du gar nicht fragen. Willst du das wirklich? Wenn nein, musst du jetzt aufhören. Ich habe dich gewarnt. Mehrmals. Wenn du es nicht wissen willst, musst du jetzt stoppen.
Wo soll ich anfangen? Am besten ganz von vorne, da noch andere Menschen mitlesen, die die ganze Geschichte gar nicht kennen und nicht wissen, was überhaupt passiert ist. Auf die möchte ich Rücksicht nehmen und sie an die Hand nehmen. Deswegen wird für dich einiges einleuchtend und bekannt sein. Du kannst die Stellen ja überfliegen. Alle anderen begrüße ich hiermit bei einem Schmierentheater. Das ist eigentlich noch zu positiv. Ersetzen wird Schmierentheater durch Trash – Müll, Abfall, faule Sachen. Wobei. Es gibt viele Leute, die Trash mögen. Das könnte missverständlich sein, weil diese dann eine falsche Assoziation ziehen würden. Denn das, was vorgefallen ist, ist beileibe kein Kult – wie manche B-Movies. Wobei. Wäre unsere Geschichte verfilmt worden, würde es bestimmt Fans unserer Geschichte geben. Und vor allem „Trash“ wäre noch zu harmlos und würde dem nicht gerecht werden. Ich merke schon, ich mache es spannend. Unnötig? Für dich vielleicht, aber für alle anderen nicht. Langsam sollte ich jedoch das Tempo etwas anziehen und auf den Punkt kommen. Ich habe mich damals – die Schauspielmetapher aufgreifend – oft gefragt, wie man unseren letzten Tag plakativ zusammenfassen könnte. Ich denke dieses könnte eine gute Einleitung darstellen und vieles für unsere unwissenden Mitleser auf einen Schlag verständlich machen. Es wäre ein guter Einstieg. Deswegen nun auch eine Warnung an alle Mitleser. Nun habt ihr die letzte Chance, mit dem Lesen aufzuhören. Ich nehme keine Beschwerden entgegen. Es tut mir leid.
Nun komme ich zu der Einleitung unserer Geschichte zurück. Ich habe damals oft an eine Werbung, eine Art Trailer zu unserer Geschichte, gedacht, als mir die Schlagworte einfielen. Lügen. Alkohol. Intrigen. Es klingt fast, wie eine Seifenoper. Deswegen würzen wir das Ganze noch mit unerwarteten Wendungen und einer Prise Rock ´n´ Roll. Klingt immer noch sehr stereotyp und wie ein schlechter Film. Und unerwartete Wendungen im Trailer klingen eher nach dem Gegenteil, wenn sie extra betont werden müssen. Aber du bist es ja selber schuld, dass alles nicht spannender und weniger musterhaft ist. Du hättest dich ja anders verhalten können. Damals. Als ich dich hinausgeworfen habe. Als du dich betrunken hast. Wie so oft. Beschwere dich folglich auch nicht. Entschuldige dich besser bei unseren Lesern für diesen „Müll“, den sie jetzt zu lesen bekommen und den sie in der Zukunft noch lesen werden. Die Zeit, die sie wegwerfen, wenn sie nun weiter lesen. Kostbare Zeit. Zeit ist bekanntlich Geld. Aber das hast du ja nie so gesehen. Für dich zählte nur das Jetzt, mein kleiner Bruder. Nur die Uhr hat jetzt bekanntlich geschlagen. Für dich. Ich habe dich so oft gewarnt. Dass du zur Schule gehen sollst, dass du das Trinken lassen sollst, dass du Dies und dass du Das nicht tun solltest. Aber du wolltest ja nicht hören. Ich kann es ja einerseits verstehen. Mir ging es damals nicht anders und Millionen von Jungen in deinem Alter geht es nicht anders. Aber bei denen geht es um die erste Liebe, um die Schule, um harmlose Dinge. Bei dir geht es um Diebstahl, Alkohol und Erpressung. Vieles mehr. Ein klarer Gegensatz. Ich gebe zu, dass ich damals auch schlimme Dinge getan habe. Drogen genommen. Harte Drogen. Ich hab es bereut und ich wollte dich davor schützen. Ich wollte nicht, dass es dir so geht, wie mir. Ich habe Alles versucht. Ich wollte ein abschreckendes Beispiel für den Weg in den Drogensumpf und zudem ein Vorbild dafür sein, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Und ich dachte, dass du daraus gelernt hast. Aber ich habe mich leider getäuscht.
Du bist noch schlimmer als ich. Ich möchte unsere Leser nicht vergraulen, nicht direkt beim ersten Lesen überfordern, nicht schockieren. Aus diesem Grund werde ich gar nicht ausführen, was du Alles so getan hast. Du wirst es wissen und unsere Leser können sich ihre Gedanken dazu machen oder einfach warten, bis ich dir wieder schreiben werde. Beim nächsten Mal wird die Antwort nicht so – nennen wir es – schonend und verständnisvoll aussehen. Ich werde direkter sein und ich werde dir erneut erzählen, was du Weihnachten getan hast. Damit du niemals vergessen kannst, was du uns angetan hast. Ich bin so enttäuscht von dir. Regelrecht. Du bist bei mir unten durch. Du wirst es nie wieder gut machen können. Du bist nicht mehr mein Bruder. Ich verachte dich. Sieh dies als kleinen Vorgeschmack für mein nächstes Lebenszeichen und für meine Damen und Herren, liebe Gefängniswärter, soll diese Geschichte – sozusagen – eine Anregung sein, die nächsten Briefe von mir genauso zu lesen, wie diesen. Es wird noch spannend werden. Spannender, als es der „Trailer“ zu Beginn vielleicht vermuten lässt. Sie werden vieles vielleicht von anderen Tätern kennen, vielleicht auch nicht, wenn sie noch nicht lange in diesem Metier arbeiten. Ich habe jedoch noch einige spannende Erlebnisse und Wendungen in Petto. Sie werden erfahren, warum mein Bruder – Pardon Christian – bei mir unten durch ist, warum er hier sitzt. Was Weihnachten passiert ist. Sie werden überrascht sein. Klar können Sie auch seine Akten durchlesen, was Sie sicher bereits getan haben, wenn sie gewissenhaft arbeiten. Nur dort werden Sie nur sachliche und technische Formulierungen lesen. Etwas von Toten, Drogenmissbrauch und vielem mehr. Juristendeutsch eben. Meine Briefe werden spannender sein – ich hoffe zumindest. Wenn nicht spannender, dann emotionaler. Bildlicher. Und wenn doch nicht, schreiben Sie mir. Ich werde dann mein Bestes geben, alles etwas spannender und anschaulicher zu erzählen. Davon hat ja auch Christian etwas, weil er sich unsere letzten Tage besser vorstellen und unsere Geschichte noch einmal durchleben kann. Das war es fürs Erste. Bald kommt neue Post.
Bis zum nächsten Mal Christian und schöne Grüße an unsere Mitleser.
Michael
Fortsetzung folgt
12. Juni 2011